Als „Schandfleck“ bezeichnete der Landeskonservator für Wien seinerzeit das Leiner-Haus auf der Mariahilferstraße. Seit seiner Errichtung 1894/95 als Warenhaus „Zur großen Fabrik – Stefan Esders“, war es zahlreiche Male adaptiert und umgebaut worden. Als die Signa-Gruppe rund um den Unternehmer Renè Benko es 2017 erwarb, liess sein Zustand äußerlich kaum noch auf die ursprünglichen Substanz schließen. Eine Adaptierung des Bestandes wurde aus logistischer Sicht infolge zahlreicher Schwierigkeiten als unrentabel bezeichnet. Stattdesssen sollte das Gebäude durch ein neues Kaufhaus ersetzt werden.
Besonders wegen des historischen Stiegenhauses entbrannte ein medial geführter Streit um den Abriss. Das Stiegenhaus sei zwar „ganz schön“, aus denkmalpflegerischer Sicht aber „keine Schutzwürdigkeit gegeben“, so der abschließende Befund des Denkmalamts. Der Rest ist bekannt. Das Leiner-Haus wurde abgerissen, ein Wettbewerb ausgelobt, aus dem das Rotterdamer Architekturbüro OMA als Sieger hervorging. Mit dem Bau des neuen „Lamarr“ wurde 2022 begonnen.
Seit Februar 2024 steht die Baustelle auf der Wiener Mariahilferstraße still. Die Insolvenz der Signa-Gruppe gilt als größte der zweiten Republik und hatte weitreichende Konsequenzen für zahlreiche österreichische und deutsche Innenstädte. Der großmaßstäbliche Rohbau wurde in Österreich zum Symbol des Zusammenbruchs des Unternehmens und seiner rücksichtslosen Immobilien-Geschäfte.
Die Polemik rund um den Abriss des Leiner-Hauses und den Rohbau des Lamarr-Kaufhauses wird zum Ausgangspunkt des Entwerfens. Neben Ideen für den Umgang mit dem Rohbau soll auch die ökologisch hochaktuelle Frage der “Entsorgung” voll funktionstüchtiger Bausubstanz diskutiert werden. Um die gesellschaftliche Dimension des Neubaus zu beleuchten, wird das außergewöhnliche Leben der gebürtigen Wienerin Hedy Kiesler Lamarr, die aus Marketing-Gründen zur Namensgeberin gemacht wurde, eine Rolle spielen. Ihr berühmtester Film trug den Titel “Ekstase” und führte wegen der ersten Nacktszene der Filmgeschichte zu einem Skandal. Später war sie als Erfinderin tätig und entwickelte eine Variante des Frequenzsprungverfahrens, das heute in Smartphones Verwendung findet.
Je eines der Gebäude – das eine in seinem Letztzustand vor dem Abriss, das andere in seiner derzeitigen rohen Form – soll den Studierenden als Grundlage für ihren Entwurf dienen. Im Vordergrund des Entwerfens steht dabei nicht deren vermeintlicher Denkmalcharakter, oder deren Neubefüllung mit Nutzungen, sondern eine architektonische Auseinandersetzung mit den typologischen Eigenheiten der beiden Konsumarchitekturen und die Frage, wie diese umgebaut werden müssen, damit in ihnen eine verdichtete Nachbarschaft verschiedenster Akteur:innen möglich wird.
Methoden:
Im Kurs soll vermittelt werden, dass Architektur stets mit einem Umbau, einer Verschiebung gesellschaftlicher Verhältnisse verbunden ist, die es deshalb theoretisch und sozialräumlich zu erfassen gilt. Über die Laufzeit des Entwerfens stehen daher die Auseinandersetzung mit theoretischen Texten, die Anfertigung von Skizzen und Zeichnungen sowie das Bauen physischer Modelle als wesentlichste Instrumente zum Denken und Erarbeiten von Architektur im Zentrum. Begleitende Aufgabenstellungen, Input-Vorträge zu Beginn der Übungen sowie ein Workshop dienen der inhaltlichen Vertiefung, der gemeinsamen Diskussion und der konzeptionellen Schärfung der einzelnen Projekte.
Vortragende:
Harald Trapp
Gerhard Flora
Weitere Informationen:
Einführung: Di, 08. Oktober 2024 um 14:00 Uhr, in Seminarraum CA 0322
Betreuungstermine jeweils Dienstags von 14:00 bis 18:30 Uhr.